bachelorthesis

Raumbezogene Identifizierung in städtischen Neubauquartieren,
Die Bewohner:innenperspektive im Frankfurter Europaviertel.

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Im ungebremsten Bauboom deutscher Großstädte ist anhaltende Kritik an Form, Wirkung und Nachhaltigkeit der Neubauten kein Fremdwort mehr (Bremer, 2019). Auch die visuelle Erfahrung eines Besuchs in Neubauquartieren, wie dem Frankfurter Europaviertel, lässt hinterfragen, wie es den Menschen ergeht, die dort wohnen und leben. Die Wahrnehmung einer „monotonen“ und „sterilen“ neuen Lebenswelt ist dabei nicht nur im Frankfurter Raum, sondern im Pressediskurs vieler europäischer Städte vorzufinden (Weißmüller, 2016; Schoop, 2019; Kaltenbrunner, 2021).

„Es gibt Tausende Siedlungen wie diese. Und genau das macht sie so austauschbar. Es sind Würfel mit einem Loch in der Mitte, Klötze mit undefinierbaren Fassaden. Ein Haus etwa ähnelt einem leeren Ikea-Regal aus Beton, mit symmetrischen, langgezogenen Löchern dazwischen. Die Farbe eines anderen gleicht dem letzten Schluck eines kalt gewordenen Latte macchiato. In der Umgebung dasselbe Bild. An jeder Ecke entsteht Neues, und überall sieht es gleich aus. […] Die Bauträger und Architekten sehen dies natürlich anders. Mit markigen Sprüchen preisen sie die Klötze als Quartiere an, in denen gelebt werden soll, gearbeitet, eingekauft, gegessen und gefeiert. […] Die Realität aber sieht anders aus. Oft sind Neuüberbauungen tagsüber wie ausgestorben.“ (Schoop, 2019, S. 2-3)

Der Quartiersbegriff, eigentlich als Ausdruck sozialer Nähe und Ortsbindung verstanden, wird dabei genauso wie andere, emotional definierte Begrifflichkeiten zu Vermarktungszwecken romantisiert. So werden die Neubauten und Viertel mit ‚Charakter‘, ‚Identität‘ und „urbane[m] Lebensstil“ beworben, ohne der sozialen Bedeutung Rechnung zu tragen (Aurelis, 2021; Kaltenbrunner, 2021). Den viel kritisierten, neoliberal entwickelten Neubauarealen stehen nur wenige Beispiele partizipativer Stadtentwicklung gegenüber. Neben den Züricher Projekten Hunziker Areal und Kaltbreite wird vor allem die Tübinger Südstadt als Vorbild moderner Quartiersbildung angeführt. Auf dem ehemaligen Kasernengelände wurde mit aufwändigen Partizipationsverfahren und dem notwendigen politischen Willen in Baugemeinschaften und -genossenschaften ein lebendiger Lebensraum geschaffen, der im Sinne der späteren Bewohner:innen und nicht aus ökonomischen Beweggründen gestaltet wurde (Pätz, 2017). Als Kontrast zum partizipativ entwickelten Quartier erscheint so das Frankfurter Europaviertel mit einem Plangebiet von ca. 90 Hektar, das seit den 1990er Jahren auf dem Areal des ehemaligen Hauptgüterbahnhofs der Stadt Frankfurt entwickelt wird.

Als Projektentwicklungsgesellschaften übernahmen die ehemalige Vivico Real Estate (heute Immo Deutschland) und die Aurelis Real Estate das Gebiet von der Deutschen Bahn. Der erste städtebauliche Rahmenplan wurde 1999 vom Stadtplanungsbüro Albert Speer und Partner vorgelegt und in den Folgejahren ausgearbeitet (AS+P, 2021). „Das Herz des Europaviertels bildet die 60 Meter breite Europa-Allee. Eine Straße [die] Boulevard- Charakter“ bieten soll (Aurelis, 2021). Die einzelnen Baugrundstücke wurden seit 2003 an Immobilienentwicklungsunternehmen weiterveräußert, sodass zum heutigen Stand der überwiegende T eil des Europaviertels fertig bebaut ist. Das „letzte große innerstädtische Entwicklungsgebiet“ soll so für 15.000 Menschen Wohnort sein. Gleichzeitig mehren sich kritische Stimmen insbesondere in der Lokalpresse, die sich mit der Unvollständigkeit zentraler Infrastrukturelemente auseinandersetzen. Dazu zählen u.a. die mittlerweile auf 2025 verschobene Fertigstellung der U-Bahn Linie U5, die Verhinderung der Eröffnung des zentralen Europagartens durch einen Rechtsstreit und Probleme bei der Fertigstellung der neuen Grundschule-Europaviertel (SBEV, 2021). Der Europa-Allee, die als belebte Flaniermeile beworben wird, haftet heute das Narrativ der „Stalinallee“ an (Klauth, 2019). So fehlen vielfältige Erdgeschossnutzungen und die bis zu sieben Meter breiten Bürgersteige wirken ohne Benutzer:innen überdimensioniert, anstatt sich zu einer zweiten „Champs-Elysée“ zu entwickeln (FNP, 2018). Auch die Architektur der Neubauten wird, während Immobilienentwickler:innen die klare Formsprache loben, insbesondere von Architekt:innen als sich wiederholendes „Klötzchenspiel“ kritisiert (Weißmüller, 2016). Neben den physisch-baulichen Aspekten, werden insbesondere politökonomische Entscheidungen in der Bebauung des Areals beanstandet. So wurden die Flächen nicht nur in rein ökonomischer Hinsicht entwickelt, sodass bis auf gesetzliche Mindestanteile von Sozialwohnungsbauten vor allem Wohlhabende zuziehen konnten. Dieser Prozess strahlt bis ins benachbarte Gallus aus, wo festzustellen ist, dass durch die Entwicklung im Europaviertel auch dort Gentrifizierungsprozesse stimuliert werden (Schipper & Latocha, 2018). Der Kritik entgegengestellt wird vor allem der Zeitfaktor, nach dem neue Quartiere „ein bisschen Zeit“ bräuchten, bis sich Urbanität entwickeln würde (FNP, 2018). Auch die Auszeichnung des Europaviertels mit dem Platin-Zertifikat für Nachhaltigkeit der deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen ist für die Projektentwickler:innen eine Bestätigung für den Erfolg des Europaviertels (DGNB, 2021). Eine Bewertung der Nachhaltigkeit nach rein technischen Kriterien wie E-Tankstellen und energiesparenden Bauweisen reicht jedoch nicht aus, vielmehr braucht es eine Bewohner:innenschaft, die sich an ihre räumliche und soziale Umgebung bindet. Aneignungsfähigkeit, Partizipation und Resilienz werden als Mindestanforderungen an heutige Neubauareale angesehen, damit sich diese nicht wie einst Großwohnsiedlungen, vom utopischen Ansatz Urbanität durch Dichte, zum dystopisch verhandelten Stadtraum entwickeln (Bremer, 2019).